Mit Ludwig Renn auf einer etwas anderen Wanderung durch Europa
„Zu Fuß zum Orient“: Das klang allzu verlockend und ließ mich als jungen Menschen zu dem in gelblichbraunes Leinen gebundenen Band von Ludwig Renn greifen. Genaugenommen handelte es sich um einen Doppelband, dessen zweiter Teil programmatisch mit „Ausweg“ überschrieben war. Wer sich hinter dem Namen Ludwig Renn verbarg, erfuhr ich bald: Arnold Vieth von Golßenau – so sein richtiger Name – hatte 1910 eine Offizierslaufbahn eingeschlagen. Im ersten Weltkrieg zum Kriegsgegner geworden, weigerte er sich während des Kapp-Putsches 1920, auf revolutionäre Arbeiter schießen zu lassen. Dieser Frontwechsel beendete seine militärische Karriere.
Sein Reisebericht „Zu Fuß zum Orient“ erschien zwar erst 1966 und der zweite Teil „Ausweg“ sogar noch ein Jahr später, doch unternommen hatte er die beschwerliche Reise bereits 1925 und 1926. Damals noch als Arnold Vieth von Golßenau. Seit seinem Ausscheiden aus dem Militär fühlte er sich überflüssig, nutzlos, einsam. Verzweifelt suchte er, seinem Leben einen neuen Sinn zu gegen. „Wenn ich doch etwas Nützliches gelernt hätte“, klagt er gleich im ersten Kapitel seines Reiseberichtes.
Johann Gottfried Seume gleich, der sich ein gutes Jahrhundert früher zu Fuß auf den Weg nach Syrakus gemacht hatte, war Ludwig Renn im September 1925 zu seiner fast ein Jahr dauernden Reise aufgebrochen, die ihn über Österreich, Italien und Griechenland in die Türkei und nach Ägypten sowie über Libyen, Italien und Österreich schließlich wieder zurück nach Deutschland führte.
Von der ersten Seite an zog mich sein Buch in den Bann. Ich war gleich doppelt begeistert. Die Frage „Wofür lebe ich?“ bewegte auch mich. Und seit langem schon war kein Reisebericht über fremde Länder und Regionen vor mir sicher. Forschungs- und Entdeckungsreisende wie Alexander und Wilhelm von Humboldt, Sven Hedin, Heinrich Barth, David Livingstone, Mungo Park, Hugh Clapperton, James Richardson, Gerhard Rohlfs oder Henry Morton Stanley ließen vor meinen Augen eine fremde, exotische Welt entstehen.
Von schwerer Arbeit gezeichnete Hände
Ludwig Renn lenkte mein Blick in die Nähe, die jedoch keineswegs weniger exotisch erschien: Auf die Mönchsrepublik Athos, dem letzten Überbleibsel des Mittelalters in Europa.
Doch mit jeder Buchseite wurde deutlicher: Mittelalter herrscht nicht nur auf dem Berge Athos.
Trotzdem faszinierten mich damals vor allem seine Beschreibungen der Baukunst und der Landschaft. Nur weil Kunsthistoriker und Reiseführer eine Kirche oder ein Schloss schön fanden, wollte er noch lange nicht in deren Jubelchor einfallen. Ludwig Renn beharrte vielmehr auf dem Recht einer eigenen Meinung.
In Mailand mokierte er sich über den Dom, der mit seinen 106 Spitzentürmchen und 4500 Statuen den Touristen, wenn schon keine herausragende Baukunst, so doch „etwas zu bewundern, große Zahlen“ biete. Begeistert zeigte er sich in Florenz von Michelangelos David, dessen Hände „von schwerer Arbeit geformt“ seien, aber nicht von den zahlreichen Palästen. Während ihn das einstmals imposante Olympieion von Athen mit seinen missglückten Säulen abstieß, war er für die nahegelegene, bescheidene Metropolitenkirche voll des Lobes. Entsetzt zeigte er sich wiederum nach dem Besuch der Grabanlage Kom-esch-Schugâfa in Alexandria, als er notierte: „… welcher Mangel an Geschmack, am Sarkophag Köpfe hübscher Mädchen anbringen zu lassen, zwischen Laubgehängen und Schädeln von Opfertieren“.
Immer wieder versuchte Ludwig Renn, Bildhauerei und Architektur aus ihrer Zeit heraus zu verstehen, und kritisierte er Kunsthistoriker wie Reiseschriftsteller, die verklärten oder aus heutiger Sicht urteilten. Ihrem Bild von den „Griechen als ein[em] Volk der Philosophen, Dichter und Künstler“ stellte er das „Entsetzen über das Leben in den [griechischen] Stadtstaaten“ gegenüber, in denen der „Geist des Gelderwerbs“ herrschte und die Frauen „nichts anders als orientalische Frauen im Harem“ lebten.
Das Leben vor allem auf dem Lande erschreckte ihn immer wieder. „Schweine liefen durch die Abwässer und in die Häuser hinein“, und überall begegnete er Kindern, „schmutzig und in grobgeflickten Kleidern“. Doch gerade die Ärmsten der Armen erwiesen sich fast immer als überaus gastfreundschaftlich. Gastfreundschaft anzunehmen hieß für Ludwig Renn allerdings nicht, sich – wie ein halbes Jahrhundert später manche Globetrotter – von ihnen durchfüttern zu lassen.
Man müsste die Welt verändern
Ob in Italien, Griechenland, der Türkei oder Ägypten, überall musste er erleben, wie für die Rüstung nahezu unbegrenzt Geld vorhanden war. Auf der einen Seite „nichts als mittelalterliches Elend und Hoffnungslosigkeit“, schrieb er in Tarent, auf der anderen Seite „eine Flotte von Schiffen, von denen jedes wohl über hundert Millionen kostete, Linienschiffe, Kreuzer, Zerstörer.“ Nicht besser verhält es sich in den anderen Ländern.
Zurückgekehrt nach Deutschland blieben die Zweifel: „Man müsste die Welt verändern, einfach praktisch das Elend beseitigen.“ Doch wie?
Als Student der Kunstgeschichte gerät er in Wien in den Juli-Aufstand. Auslöser des Aufstandes ist der Freispruch von drei Mitgliedern der faschistischen Frontkämpfervereinigung, die auf eine Versammlung der Sozialdemokraten geschossen und zwei Menschen getötet hatten. Wie in der Novemberrevolution in Deutschland stellt sich die sozialdemokratische Parteiführung aber auch hier gegen die Aufständischen.
Ludwig Renn will nicht mehr in Wien bleiben und folgt einer Einladung seines Jugendfreundes und Museumsdirektors Hildebrand Gurlitt nach Zwickau. An der dortigen Volkshochschule hält er ab Herbst 1927 regelmäßig Vorlesungen über China, die vor allem von jungen Arbeitern besucht werden. Ihnen tritt er nicht mehr als Arnold Vieth von Golßenau gegenüber, sondern als Ludwig Renn – dem Helden aus seinem Antikriegsroman „Krieg“. 1928 tritt er der KPD bei.
Es muss 1968 gewesen sein, als ich „Zu Fuß zum Orient“ und „Ausweg“ das erste Mal gelesen habe. 42 Jahre später hat sein Reisebericht nichts an Faszination und – erschreckenderweise – an Aktualität verloren. Das Mittelalter ist noch immer unter uns, Rüstung wichtiger als Bildung, Anderssein ausreichend für Hass und Verfolgung. Schade, dass der Band schon seit langem nur noch antiquarisch erhältlich ist.