Alexander A. Bogdanows „Der rote Planet“: eine sozialistische Utopie als gesellschaftlicher Gegenentwurf (Teil 1)
Warum ich zwar begeistert die Werke von Stanisław Lem, Arkadi und Boris Strugatzki, Thomas Morus und Tommaso Campanella gelesen, aber nie zu Alexander Alexandrowitsch Bogdanow gegriffen habe, vermag ich nicht mehr zu sagen. Als ich jetzt „Der rote Planet“ auf meinem Ebook-Reader entdeckte, habe ich das Versäumte endlich nachgeholt. Und – die Lektüre hat sich gelohnt.
Als Bogdanow seinen utopischen Roman schrieb, war die Revolution von 1905 gerade von der zaristischen Armee blutig niedergeschlagen worden. Bogdanow, der sich 1896 der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) und 1903 deren bolschewistischen Flügel angeschlossen hatte, hegte jedoch keine Zweifel, dass der nächste Anlauf, die gesellschaftlichen Verhältnisse in Russland grundlegend umzukrempeln, nicht lange auf sich warten lassen würde.
Gleich zu Beginn des Romans „Der rote Planet“ (in manchen Übersetzungen auch „Der rote Stern“ genannt) erfahren die Leser von einem „Umbruch, der bis in die Gegenwart fortwährt und sich nun wohl seinem unabwendbaren schrecklichen Ende nähert“ und an dem der Ich-Erzähler „als Amoralist, der einfach das Leben liebt“, beteiligt ist.
Eigentlich ist der Ich-Erzähler, über den die Leser erst gegen Schluss erfahren, dass er Leonid heißt, Physiker, der zu einer verblüffenden Erkenntnis gelangt ist: Es muss eine „Gravitation mit umgekehrtem Vorzeichen“ geben, also eine „Materie, die von der Erde, der Sonne und den anderen Himmelskörpern abgestoßen, aber nicht angezogen wird.“
Eines Tages, so seine feste Überzeugung, werde der Mensch sich deshalb „völlig frei in der Luft zu bewegen und dann zu anderen Planeten zu fliegen“ wissen. Da dieser Materietyp in unserem Sonnensystem allerdings nicht existieren könne, weil er bereits im Moment seiner Entstehung vertrieben würde, müsse er hier künstlich hergestellt werden. Noch fehlten hierfür aber sämtliche Voraussetzungen.
Einladung auf den Mars
Ein seltsamer Gast, der „das volle Vertrauen der Genossen“ besitzt“, eröffnet dem Ich-Erzähler, dass diese Aufgabe längst gelöst sei – von einer geheimen wissenschaftlichen Gesellschaft, „die schon ziemlich lange besteht und viele Jahre auf diesem Felde geforscht hat.“ Der Ich-Erzähler wird von ihm eingeladen, Mitglied dieser Gesellschaft zu werden. Vorher muss er jedoch eine Aufgabe erfüllen, um seine Fähigkeiten und seine „Energie“ zu beweisen.
Leonid, so lautet die Aufgabe, soll sich einer Mars-Expedition anschließen, deren Start bereits für den nächsten Tag geplant ist.
Schnell stellt sich heraus, dass der sonderbare Mensch Menni kein Erdenmensch, sondern ein Marsmensch ist und sein Auftrag lautet, einen Erdenmenschen „als lebendes Verbindungsglied zwischen unserer Gesellschaft und der irdischen Menschheit“ auf den Mars zu bringen.
Schon vor seinem Eintritt in die SDAPR hatte sich Bogdanow mit der Frage auseinandergesetzt, wie eine sozialistische Gesellschaft aussehen könnte. Im Gegensatz zu vielen anderen Autoren versuchte er die neue Gesellschaft jedoch nicht zu konstruieren, sondern sie aus den gegebenen natürlichen Rahmenbedingungen und der Geschichte zu entwickeln. Auf der Erde aber waren diese Bedingungen sehr ungünstig, ganz im Gegenteil zum Mars, wo die räumliche Nähe der Marsianer untereinander die Herausbildung einer einheitlichen Sprache und damit eines engen Zusammengehörigkeitsgefühls gefördert hat.
Unwillkürlich musste ich an dieser Stelle an Ludwik Lejzer Zamenhof und seine Plansprache Esperanto denken. Allerdings sollte Esperanto keine der existierenden Sprachen ersetzen, sondern sie ergänzen. Menschen unterschiedlicher Nationalität sollten sich in einer neutralen Sprache auf gleicher Augenhöhe begegnen und verständigen können.
Einen Schritt weiter ging Bogdanow, als er in „Der rote Planet“ die Grundzüge des Marsianischen konzipierte.
Die Sprache ist sehr originell, und trotz der einfachen Grammatik und Wortbildung gibt es in ihr Besonderheiten, die mir schwer eingingen. Die Regeln kennen überhaupt keine Ausnahme, man unterscheidet keine männlichen, weiblichen und sächlichen Substantive, alle Bezeichnungen von Gegenständen und Eigenschaften aber werden nach Zeitformen abgewandelt.
Dem Ich-Erzähler erscheint das völlig unverständlich. Erst Nettis Erklärung macht die anfangs unverständlich anmutenden Regeln des Marsianischen nachvollziehbar.
In Ihren Sprachen kennzeichnen Sie Substantive als männlich und weiblich, was sehr unwichtig ist und bei unbelebten Gegenständen sogar ziemlich komisch wirkt. Um wie viel wichtiger ist der Unterschied zwischen Gegenständen, die existieren, und anderen, die es nicht mehr gibt oder die erst entstehen sollen […] wenn Sie von einem Haus sprechen, das abgebrannt ist oder das Sie bauen wollen, gebrauchen Sie das Wort in derselben Form, in der Sie von dem Haus sprechen, in dem Sie wohnen. Gibt es denn einen größeren Unterschied als zwischen einem Menschen, der lebt, und einem Menschen, der gestorben ist?
Arbeit als natürliches Bedürfnis sozial denkender Menschen
Viele Überlegungen widmet Bogdanow der Frage, wie die Wirtschaft in einer sozialistischen Gesellschaft organisiert werden kann. Eine Gesellschaft, in der die Menschen mit der Angst vor Entlassungen oder Einkommmenseinbußen zur Arbeit angetrieben werden, lehnte er als menschenunwürdig ab. Seine These war, dass die Menschen gerne und freiwillig arbeiten würden, wenn nur die Bedingungen stimmten.
Eine Arbeitspflicht gibt es auf dem Mars deshalb genauso wenig wie Geld oder Arbeitszeugnisse. Die Marsianer arbeiten vielmehr freiwillig.
Die Arbeit ist das natürliche Bedürfnis eines entwickelten, sozial denkenden Menschen, und jede Art maskierten oder offenen Zwangs ist völlig überflüssig.
Auch wenn sich einzelne Marsianer mehr als andere nehmen würden, bleibe die Gesellschaft im Gleichgewicht. Wo der eine jedes Jahr sieben neue Mäntel beanspruche, begnüge der andere sich mit einem neuen Mantel in sieben Jahren. Fast könnte man denken, Bogdanow predige hier die Idee des All-Inklusive, machen sich die All-Inclusive-Angebote doch genau diese Erkenntnis zunutze. Trotzdem wurden und werden Kritiker nicht müde, diese Idee für weltfremd zu erklären – und Bogdanow für einen Ideologen und Demagogen. Reingewaschen hat ihn vor ihren Augen nur seine Gegnerschaft zum Parteiflügel um Lenin, die ihm 1909 die Mitgliedschaft in der SDAPR kostete.
In der Fabrik, in der Netti arbeitet, erfährt der Ich-Erzähler jedoch auch, dass die ständige Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen Gleichgewichts keine leichte Aufgabe ist. Tatsächlich seien die Berechnungen alles andere als trivial, da es viele Faktoren zu berücksichtigen gäbe und zukünftige Entwicklungen immer mit einem Unsicherheitsfaktor verbunden blieben.
Um schnell reagieren zu können, werde der Warenbestand in den Lagern, die Produktivität der Unternehmen und die Zahl der Arbeiter permanent zentral erfasst und mit dem Bedarf verglichen. Die daraus resultierenden Kennziffern würden dann stündlich aktualisiert auf dem gesamten Mars veröffentlicht. So erfahre jeder Arbeiter, in welchen Bereichen der Gesellschaft und welchen Unternehmen gerade Arbeiter gesucht würden. Der Strom der Freiwilligen stelle dann das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Wirtschaftssektoren wieder her.
Im Mittelpunkt der Gesellschaft stehen die Kinder
Besonders stolz sind die Marsianer auf die Wertschätzung der Kinder, die nur in den ersten Lebensjahren bei ihren Eltern leben und dann in Kinderstädte umziehen. Kinder und Eltern, die zusammenbleiben möchten, dürfen aber auch gemeinsam mit ihren Kindern in der Kinderstadt leben. Mütter verspürten diesen Wunsch häufiger als Väter, lässt Bogdanow die Leser wissen. So wenig Frauen und Männer sich noch in der Arbeitswelt und in der Bekleidung unterscheiden, wenn es um die Kindererziehung geht, brechen unverhofft doch wieder alte Rollenverhältnisse auf.
Im nächsten Teil geht es unter anderem um Bogdanows Überlegungen zum Alltag der Kinder und zur Gewaltfrage in der zukünftigen sozialistischen Gesellschaft.
März 2nd, 2012 at 16:26
[...] Die Idee hört sich gut an: Ein Add-In für Microsoft Word unterstützt beim Schreiben geschlechtsneutraler oder feminisierter Texte. Abgesehen von der Frage, ob dies überhaupt immer erstrebenswert ist, reizte mich doch ein Test mit eigenen Texten. Ausgewählt habe ich dafür zwei Beiträge aus meinem Buchentdeckungen-Blog: Der Dichter und Rebell Erich Mühsam und Alexander A. Bogdanows »Der rote Planet«: eine sozialistische Utopie als gesellschaftlicher Gegene…. [...]