Erasmus Schöfers „Die Kinder des Sisyfos“ auf der Suche nach der Zukunft (Teil 3)
Als Erasmus Schöfer seinen Roman über Viktor Bliss’ Flucht nach Griechenland und seine Heimholung nach Deutschland schrieb, war an die Romantetralogie „Die Kinder des Sisyfos“ noch lange nicht zu denken. Zwar hatte Schöfer bereits 1980 mit der Arbeit an dem Roman „Tod in Athen“ begonnen, aber an die Tetralogie wagte er sich erst zehn Jahre später. Den 1986 im Weltkreisverlag erschienenen Roman „Tod in Athen“ überarbeitete er für „Die Kinder des Sisyfos“ gründlich und ließ ihn unter dem Titel „Sonnenflucht“ als dritten Band in das epochale Romanwerk einfließen.
Griechenland und seine Landschaften, seine Menschen, seine klassische Philosophie und Literatur, seine antike Baukunst und Bildhauerei, seine Götterwelt und seine Mythen haben schon immer Schriftsteller fasziniert. Mit dem Beginn der Aufklärung ging ein wahrer Boom an Literatur mit „griechischen Motiven“ einher. Ob Goethe, Wieland, Hofmannsthal, Grillparzer, Schlegel, Lessing, Schiller, Hölderlin, Arnim, Bürger, Arndt, Kleist, Waiblinger, Klabund, Panizza, Herder oder Platen: Griechenland hatte in der Romanliteratur und Lyrik Hochkonjunktur.
Schöfer bildet hier keine Ausnahme, aber er sprengt den zumeist doch sehr verengten Horizont. Ja, auch Schöfer bewundert die antiken Philosophen und Baumeister, die Menschen und Landschaften Griechenlands, doch er belässt es nicht dabei, sondern baut seinen Roman gerade auch auf der jüngeren Geschichte und der Gegenwart Griechenlands auf.
Vom Kämpfen, Lieben, Sterben und einem wunderschönen Sonnenaufgang
Auch in „Sonnenflucht“ greift Schöfer wieder auf eigenes Erleben zurück. Ein Jahr, 1980, hat er auf Leros gelebt, das Land bereist, mit den Menschen gesprochen und geschrieben. Dass er mittendrin dabei war, schlägt sich in großer Detailgenauigkeit nieder. 1980 war auch das Jahr des Mordes an der Studentin Sotiria Vasilakopoulou, der schließlich für Schöfer den Anstoß für seinen Griechenlandroman gab, wobei die Benennung als Griechenlandroman viel zu kurz greift, denn die im Roman aufgeworfenen Fragen reichen viel weiter.
Viktor Bliss ist ausgebrochen, weggelaufen aus Deutschland – und liegt jetzt im Krankenhaus. Ihm geht es schlecht, sehr schlecht. So schlecht, dass die Ärzte Katina nicht zu ihm vorlassen wollen. Ihr bleibt nichts anderes, als ihm Kassetten zu besprechen, um ihm über ihren Urlaub mit Sotiria zu erzählen, über die letzte Nacht vor der Rückkehr nach Athen – und über einen wunderschönen Sonnenaufgang.
Das letzte Stück Weg ging bergab, ziemlich steil, bis Sissu stehenblieb. Da waren die Felsen. Jetzt müssten wir warten. Das Meer war eine riesige dunkle Fläche, kein Stern drin gespiegelt, und dicht unter uns so ein schläfriges Plätschern, verschlafene kleine Wellen, und als ob es kühl herauswehte. Ich hatte einen Schauder, nur mit meiner dünnen Bluse, da hat Sotiria mich umarmt. Ich sollte nicht frieren.
Es war der Tag, an dem der hessische Bildungsminister Viktor zwar versicherte, „wir machen es uns gewiss nicht leicht“, aber für seinesgleichen gebe es in den bundesdeutschen Schulen nun einmal keinen Platz, der Tag, an dem seine Frau Lena weder am Abend noch in der Nacht nach Hause kam und „die Ahnung wortlose Gewissheit [wurde], dass jemand ihr längst wichtiger geworden war“.
Vom Kampf gegen das Berufsverbot zermürbt, gibt Viktor dieser Verlust den Rest: Er will nur noch weg. In Griechenland, wo sich seit dem Sturz der Militärjunta 1976 immer mehr „Flüchtlinge aus der mitteleuropäischen Leistungswut“ als Bienenzüchter, Ziegenhirten, Tauchfischer und Tavernenkellner versuchen, hofft auch er wieder zu sich selbst zu finden.
Welche Urlauber wollen schon Etwas über die Toten der KZ-Inseln lesen
Auf der Insel Leros, bei den Touristen aus aller Herren Länder wegen ihrer herrlichen Strände beliebt, bei den Griechen berüchtigt für ihre Internierungs- und Umerziehungslager, findet Viktor Unterschlupf. Hier schreibt er, an einem Reiseführer, einem dialektisch-materialistischen. „Für Revolutionäre auf Urlaub“, wie Manfred spottet. Eine Postkarte mit zwei Sätzen hatten ihm gereicht: „Die heile Welt ist absurd. Und die roten Plätze verschüttet. Grüße, Viktor.“ War das nun ein Hilferuf oder eine „patetische Pose“? Manfred entschied sich für Hilferuf, nahm kurzerhand Urlaub und reiste Viktor hinterher, um ihn zu retten und heimzuholen.
Mit der Fähre fahren beide von Leros zurück nach Athen, vorbei an der KZ-Insel Makronissos, „das Buchenwald, das Dachau der Griechen“, wie es Viktor formuliert, auf der von 1947 bis 1949 über 100.000 Menschen, vor allem Kommunisten, aber auch viele andere Linke inhaftiert waren und gefoltert wurden. Tausende sind auf der Insel zu Tode gequält worden. Auch darüber will Viktor in seinem Reiseführer schreiben. Manfred hat allerdings seine Befürchtungen: Wollen die Touristen wirklich „so genau wissen, wozu diese gastfreundlichen Griechen mal fähig warn“?
Während Viktor für Manfred auf seiner Insel begraben war – zwar „Begraben im Mittelalter“, aber auch „Beerdigt in Idyllen“ –, ist es für Viktor eine Fahrt „zu meiner Beerdigung“, eine Rückkehr in ein „Land der unheiligen Erinnerung, der vergessenen Verbrechen“, das „mich ausgestoßen“ und mit Berufsverbot belegt hat. Wäre da nicht die Freundschaft zu Manfred, er bliebe wohl auf seiner Insel.
Dein bestes Argument ist deine Freundschaft, die liegt im Streit mit meiner Insel. Es sieht so aus dass du gewinnst.
Aus dem baldigen gemeinsamen Rückflug von Athen nach Düsseldorf wird allerdings nichts. Alle Flüge sind ausgebucht. Viktor und Manfred müssen in Athen übernachten, in einer heruntergekommenen Herberge unterhalb der Akropolis im Touristenviertel Plaka, über dem Brandgeruch liegt: Die Wälder um Athen brennen, von Brandstiftern angezündet, die das Land vor den bevorstehenden Wahlen ins Chaos stürzen wollen, wie es heißt, um einen Sieg der Linken zu verhindern und möglicherweise einen neuen Militärputsch zu provozieren.
Doch die Atmosphäre in Athen ist nicht nur wegen der Waldbrände und Putschgerüchte angespannt, sondern auch wegen des Mordes an der Studentin und Kommunistin Sotiria Vasilakopoulou. Gemeinsam mit anderen Demonstranten hatte sie vor den Toren der Textilfabrik ETMA Flugblätter verteilt, als ein von der Geschäftsleitung angeheuerter Busfahrer in die Demonstranten fuhr und Sotiria überrollte.
Über die schmerzenden Niederlagen wollen wir nicht reden
Im Athener Vorort Kessariani treffen Viktor und Manfred mit Viktors ehemaligem Studienfreund Takis und dem kommunistischen Bürgermeister von Kessariani zusammen. Als Takis und der Bürgermeister berichten, dass Tausende Trauergäste unter roten Fahnen und mit erhobenen Fäusten zu Sotirias Beerdigung demonstriert seien, und sie über den kommunistischen Widerstand in Griechenland gegen die verschiedenen Diktaturen berichten, rastet Manfred aus.
Alle eure Heldensagen! Alle eure Siege! Worauf seid ihr eigentlich stolz? Redet doch mal von euren Niederlagen, damit man euch glauben kann.! Dieser traurige, ärmliche Sozialismus, aus dem wegläuft, wer weglaufen kann! Unsre deutsche Mauer – ein Sieg! Der ungarische Aufstand – ein Sieg! Prag 68 – noch ein Sieg für den Sozialismus! Jetzt streiken die Arbeiter in Danzig – die Arbeiter! Ja, meine polnischen Kollegen, für eine unabhängige Gewerkschaft, die der Regierung nicht aus der Hand frisst! Dafür kämpf ich auch in Düsseldorf. Find ich gut.
Während Viktor meint, Armins Gefühlsausbruch sei dem reichlich genossenen Retsina geschuldet, gesteht Takis ein:
Nein, es liegt nicht am Wein, dass er recht hat Viktor. Lauter Niederlagen. Auch hier in Griechenland. Und wir wollen nicht davon sprechen, weil sie uns schmerzen.
Schöfer gibt keine einfachen Antworten auf die Frage, wie es zu diesen Niederlagen kommen konnte. Oder genauer: Er gibt gar keine Antworten, sondern versucht sich diesem Thema durch immer neue Fragen und mögliche Antworten zu nähern.
Dürfen sich Linke, dürfen sich Kommunisten, dürfen wir uns unsere Moral von der „Unmoral unsrer Gegner“ diktieren lassen? Dürfen wir „immer nur den Maßstäben hinterherlaufen, die uns der Imperialismus setzt […] statt dass wir selbst der Zukunft ihre Gesetze vorgeben“? Muss der Sozialismus nicht auf Vertrauen zu den Menschen setzen, auch wenn der politische Gegner versucht, dieses Vertrauen auszunutzen, um den Sozialismus zu vernichten? Wird dieses „Gift Misstrauen“ nicht eines Tages uns selbst umbringen?
Die Massenmorde der Hitlerfaschisten, die Verbrechen an der griechischen Widerstandsbewegung, der Militärputsch gegen die demokratisch gewählte Regierung in Chile, die Berufsverbote und Kündigungen von kritischen Gewerkschaftern in der BRD, der Polizeiterror gegen die Demonstranten vor der ETMA und der Mord an Sotiria: Kann der „Niedertracht der Gegner“ wirklich durch „saubere Waffen“ und eine „reine Moral“ erfolgreich begegnet werden?
Von den Kollegen gewählt und den Chefs gefeuert
Wie real diese Niedertracht ist, erfährt Manfred, als er endlich einen freien Platz in einem Flieger nach Düsseldorf ergattert und seinen Betriebsratskollegen seine gerade noch rechtzeitige Rückkehr zur Betriebsversammlung mitteilen will: Die Betriebsversammlung wird ohne ihn stattfinden, Manfred ist als Betriebsrat fristlos entlassen.
Weil er schuld sein soll, dass Mannesmann die Stahlschmelze schließen und die Stahlwerker entlassen will, hat der Betriebsrat der Kündigung zugestimmt. Als aktives Mitglied einer Bürgerinitiative, die gegen die Umweltverschmutzung durch Mannesmann kämpft, habe er es mitzuverantworten, dass die Stadt dem Konzern den Einbau einer Entstaubungsanlage zur Auflage machte. Eine Auflage, die viel zu teuer komme, sagen Mannesmann und die Betriebsratsmehrheit.
Schon einmal, 1977, war Manfred aus dem Betriebsrat gekegelt worden, doch bei der nächsten Betriebsratswahl hatten die Kollegen ihn mit der höchsten Stimmenzahl aller Kandidaten wieder in den Betriebsrat gewählt. Doch diesmal darf er nicht einmal an die Werkbank zurückkehren. Noch einmal sollen die Kollegen ihn nicht als ihren Interessenvertreter in den Betriebsrat entsenden können.
Während Manfred nach Deutschland zurückfliegt – „in die Scheiße“, wie Viktor sagt –, bleibt dieser in Griechenland, um sich von Katina über Sotiria berichten zu lassen. Je mehr er von ihr über Sotiria erfährt, desto mehr will er auch über Katina erfahren. Katina stellt in ihrer frischen Natürlichkeit manche seiner Ansichten infrage. Was soll beispielsweise Toleranz?
Toleranz [...] die ist nun wirklich keine revolutionäre Tugend. Ungerechtigkeit und Unterdrückung kann ich so wenig tolerieren wie Krankheit und Hunger […]
Katina geht nicht demonstrieren und verteilt Flugblätter, weil sie die Forderungen für richtig hält. Oder genauer: Auch deshalb, aber vor allem, weil sie nicht untätig herumsitzen und leiden will wie Hunderttausende andere Frauen. „Ich will mein Schicksal selbst machen“, sagt sie selbstbewusst zu Viktor.
Das Flammeninferno droht Viktor zu vernichten
Als Viktor und Katina in ihrer Studentenbude hocken, über Sotiria, das Leben und Sterben reden, er „die Wärme ihres Körpers an seiner Seite“ spürt und sie „einverstanden mit der Berührung“ scheint, klingelt plötzlich das Telefon: Die Waldbrände haben sich Athen weiter genähert und bedrohen jetzt Wohngebiete.
Viktor lässt sich nicht abwimmeln, sondern fährt mit an die Feuerfront, denn: „Krieg, ja, das ist Krieg.“ Flammen scheinen das Sanatorium eingeschlossen zu haben. Nur eine schmale Schneise ist geblieben. Als Viktor Hilferufe hört, rennt er los.
[...] nur durch, bis zum Haus, nicht zur Seite schaun, das Portal das Ziel, gerahmt von zwei lodernden Kiefern, ja Kiefern müssen das sein, die breiten Zweige, welch tolle Wächter, wie vor dem Paradies, dicke flammende Engel, die andern laufen drunter durch, durch den Funkenregen, das geht also, es ist auszuhalten, sind nur Sekunden, dahinter die Stufen, das Tor, also durch durch, Flammen überall – das Tor ist zu mein Gott macht auf – hört ihr mich – die Jacke brennt – Hilfe – mein Gesicht mein Kopf – macht auf
Wäre da nicht Viktors Enkelin Ann, der „Winterdämmerung“ überschriebene vierte Band von Erasmus Schöfers Romantetralogie „Die Kinder des Sisyfos“ klänge eher deprimierend als hoffnungsvoll aus. Immerhin hat Armin sein persönliches Glück gefunden. Doch Viktor steht mit seiner Kritik an der Deformation der DKP weitgehend alleine da, Lena hat Viktor endgültig verlassen und Manfred ist in die SPD eingetreten.
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Juni 11th, 2014 at 00:32
[…] habe ich die Bände »Ein Frühling irrer Hoffnung«, »Zwielicht« und »Sonnenflucht« im Blog der Buchentdeckungen vorgestellt. Eine Vorstellung des vierten Bandes und eine […]