Erasmus Schöfers „Die Kinder des Sisyfos“ auf der Suche nach der Zukunft (Teil 4)
Wenn ich den Titel „Winterdämmerung“ höre, muss ich unwillkürlich sogleich an Georg Trakls gleichnamiges Gedicht denken – oder genauer gesagt: musste ich denken. Mit Erasmus Schöfers Roman „Winterdämmerung“, der seine Romantetralogie „Die Kinder des Sisyfos“ beschließt, hat sich das grundlegend geändert.
An ein Gedicht die gleichen Ansprüche an Gedankenfülle und -tiefe stellen zu wollen, wäre allerdings ein unredliches Ansinnen. Gerade einmal 16 Zeilen bei Trakl stehen über 600 Buchseiten bei Schöfer gegenüber. Trotzdem sei ein kurzer Vergleich gewagt.
Es ist eine düstere Welt, die Trakl beschreibt:.
Schwarze Himmel von Metall.
Kreuz in roten Stürmen wehen
Abends hungertolle Krähen
Über Parken gram und fahl.Im Gewölk erfriert ein Strahl;
Und vor Satans Flüchen drehen
Jene sich im Kreis und gehen
Nieder siebenfach an Zahl.In Verfaultem süß und schal
Lautlos ihre Schnäbel mähen.
Häuser dräu’n aus stummen Nähen;
Helle im Theatersaal.Kirchen, Brücken und Spital
Grauenvoll im Zwielicht stehen.
Blutbefleckte Linnen blähen
Segel sich auf dem Kanal.
Wäre da nicht die „Helle im Theatersaal“, herrschte bei Trakl nur noch Düsternis. Selbst der Titel „Winterdämmerung“ verheißt in diesem Zusammenhang keine Hoffnung mehr, obwohl jedem Abend ein Morgen und jedem Winter ein Frühling folgt. Doch diese Winterdämmerung scheint das Ende zu sein.
Eine ganz andere Stimmung verbreitet dagegen Schöfers Winterdämmerung. Auch bei ihm herrscht kein eitel Sonnenschein. Doch er klagt nicht nur an, sondern benennt gleichzeitig auch die Verantwortlichen sowie jene, die für die Zukunft hoffen lassen. Nicht die Kultur, auf die Trakl seine Hoffnung setzt, sondern die arbeitende Bevölkerung ist für Schöfer der Hoffnungsträger.
Erasmus Schöfer zeigt in seiner Romantetralogie Menschen wie du und ich
Diese allerdings erweist sich als äußerst widersprüchlich. Schöfer zeigt in „Die Kinder des Sisyfos“ keine idealtypischen Menschen, sondern Menschen, wie sie tatsächlich leben oder gelebt haben, Menschen mit allen ihren Widersprüchen, ihren Stärken und Schwächen, ihren Leidenschaften und Zweifeln.
Eine von ihnen ist Lena Bliss, die „verhinderte Witwe“. Sie hat ein neues Leben begonnen, „ohne meinen entflohnen Mann, aber mit einem andern der auch nicht da ist“. Jo Mettmann hat ihr als Regisseur am Gießener Theater zu einigen kleineren Rollen verholfen. Obwohl beide verheiratet sind, haben sie ein Liebesverhältnis begonnen. Dass ihr Mann Viktor sein Berufsverbot als Lehrer nicht hinnehmen wollte und sich keine Stelle an einer Privatschule gesucht hat, kann sie ihm immer noch nicht verzeihen.
Viktor, der vor Lena und den Verhältnissen in Deutschland nach Griechenland geflohen ist, hat bei dem Versuch, Menschen aus einer von verheerenden Waldbränden bedrohten Klinik zu retten, selbst schwerste Verbrennungen erlitten. Erst als er zur weiteren Behandlung aus Athen ins Unfallkrankenhaus Ludwigshafen verlegt wird, trifft er wieder mit Lena zusammen.
Sie wusste nicht was tun was sagen, ihre Hände in sterilen Gummihandschuhen, griff trotzdem nach seiner verkrampften Rechten, die er ihr ließ, sie spürte seine Wärme durch die dünne Gummischicht, streichelte den Handrücken, das haarlose freie Stück seines Unterarms, auf dem deutliche die Nähte der transplantierten farblosen Hautstreifen erkennbar, fühlbar waren.
[…]
Versuchte, vorsichtig, behutsam, seine Finger gegen den unwillkürlichen Widerstand der Verkrampfung aufzubieten, forschte in seinen Augen ob ihn das schmerzte, wohl nicht, öffnete so die Hand bis sie ihre in seine legen konnte wie zu einer Begrüßung, drückte sie leicht, seufzte leise.
Doch mehr als ein kurzes Gefühl der Vertrautheit stellt sich nicht mehr ein. Tatsächlich geht Lena längst ihren eigenen Weg. Mit Unterstützung von Jo bringt sie ihre erste eigene Produktion auf die Bühne des Gießener Theaters: eine Lesung aus Maxie Wanders Protokollband „Guten Morgen, du Schöne“, die so viel Furore macht, dass der ersten Lesung zwei weitere folgen. Jo, der einen Ruf nach Bremerhaven erhalten hat, bietet Lena an, mit ihm mitzukommen und dort zukünftig als Schauspielerin auf der Bühne zu stehen.
Damit ist die Trennung von Viktor besiegelt.
Doch nicht nur Lena verlässt endgültig ihren Mann, sondern ebenso Malina Stotz, die jetzt wieder Alvermann heißt.
Auseinandersetzung mit der Politik und dem Selbstverständnis der DKP
Seine Eifersucht und besonders seine Hingabe an seine Partei, die DKP, hat sie letztendlich nicht mehr ertragen können. Prononcierter noch als in den vorangegangenen drei Bänden setzt sich Schöfer in „Winterdämmerung“ mit der DKP auseinander. Alles habe er aufgegeben, „Singen, Texte schreiben, Kabarett“, um „die Revolution auf den Weg zu bringen“. Niemand habe gemerkt, „dass er über seine Kräfte gearbeitet hat, Magengeschwüre bekam. Wenn er mal nach Hause fand, musste ich ihn aufpäppeln.“
In einem Brief an Viktor begründet Malina, warum sie aus der DKP ausgetreten ist. In der Parteiführung sei man „nicht stolz darauf, sagen zu können: Seht doch, welche freien Geister wir in unsern Reihen haben!“ Sie habe „im Gegenteil den Eindruck, sie fürchten die.“ Selbständiges Denken sei verpönt. Zudem herrsche beispielsweise ein „blinder Glauben an die Nützlichkeit und Beherrschbarkeit der Atomenergie“, „wenn sie nur den profitgierigen Händen der Kapitalisten entrissen“ sei. Der Faktor „fehleranfällige Menschen“ werde kurzerhand ignoriert.
Obwohl Viktor ihre Kritik an der DKP teilt, kann er ihren Austritt nicht billigen. Viele Genossen gehörten „zu jenen nicht zahlreichen Menschen in unsrer Gesellschaft, die uneigennützig gegen Ungerechtigkeit und Ausbeutung sich auflehnen und die Hoffnung hochhalten, daß eine humanere Welt möglich ist.“
Er selbst hat sich von allen Menschen zurückgezogen und verfolgt die Arbeit seiner Partei nur noch aus der Ferne. Von der Brandkatastrophe verunstaltet, kann Viktor seinen eigenen Anblick kaum noch ertragen. Vom Arbeitsamt ist er als Halbtagskraft an ein Tierheim vermittelt worden, wo ihn bald ein großer schwarzer Hund „adoptiert“, den er Manfred nennt. Tiere schauen nicht auf das Äußere, sondern spüren instinktiv das Gute in einem Menschen, greift Schöfer ein beliebtes Romansujet auf, ohne jedoch in irgendwelche Rührseligkeit zu verfallen.
Als Viktor gebeten wird, an einer Beratung von DKP-Aktivisten mit den wenigen in der Partei verbliebenen Kulturproduzenten teilzunehmen, wagt er sich erstmals wieder unter Menschen. Doch schnell muss er erkennen, dass nicht die freie Diskussion über offene Fragen gewünscht wird. „Das amtierende geschiente Fußvolk des Apparats füllt den Saal vielstimmig einstimmig mit Empörung. […] Welche gibts auch, die schweigen Bliss ihr Einverständnis zu.“
Ein ganzes Kapitel hat Schöfer dieser „Beratung“ gewidmet, die für Viktor mit der totalen Isolierung innerhalb der DKP endet. Es klingt schon nach Sarkasmus, wenn Schöfer dieses Kapitel „Im Zentrum der Ohnmacht“ überschreibt. Auf der einen Seite versteht sich die DKP-Führung als unerschütterliches Machtorgan, auf der anderen Seite hat die DKP (nicht nur) unter den Kulturschaffenden rapide an politischem Einfluss verloren.
Manfred steht vor der Wahl, kaputtzugehen oder zu kapitulieren
Isoliert ist ebenfalls Manfred Anklam, Stahlwerker und Betriebsrat bei Mannesmann.
Weil er als Privatmensch ein Flugblatt einer Mieterinitiative mitunterzeichnet hat, in dem die gesundheitsschädigende Staub- und Abgasbelästigung durch das Mannesmann-Stahlwerk kritisiert wird, soll er für die drohende Schließung der Stahlschmelze in Reisholz verantwortlich sein. Für eine Mehrheit im Betriebsrat geht sein Engagement für die Mieter zu weit. Sie stimmen der fristlosen Kündigung ihres Vorsitzenden zu.
Die Kündigungsschutzklage gewinnt er zwar in erster Instanz, doch an seinen Arbeitsplatz darf er trotzdem nicht zurückkehren, da Mannesmann in Berufung geht. Sein Rechtsanwalt Volker Götz nimmt ihm alle Illusionen:
[…] hat gestern angerufen der Herr Arbeitsdirektor, schmink dir ab Manfred dass du je wieder mit deinem Recht in die Firma zurückkommst, die prozessieren bis zum Bundesarbeitsgericht, bei dem was sie dir bieten, das heißt zwei Jahre oder drei oder auch vier rumhängen mit dreiundsechzig Prozent und dann ausgesteuert Stütze Sozialamt, wie hältst du das durch und zu wessen Nutz oder hast du reiche Eltern oder Gabriele Henkel als Sponsor?
Allerdings unterbreitet Mannesmann ihm ein Angebot: Achtzigtausend in bar will man ihm zahlen, außerdem eine Umschulung finanzieren und ihm anschließend einen „gehobnen Arbeitsplatz mit weißem Kittel in einem Konzernbetrieb“ anbieten. Die Bedingung: Er akzeptiert die fristlose Kündigung.
Volker Götz rät ihm, das Angebot anzunehmen. Als Anwalt könne er zwar viel verdienen, wenn Manfred weiter prozessiere, aber „ich muss die Interessen meiner Mandanten wahren. Ich will nicht dass du kaputt gehst Manfred.“
Ob Manfred das Beispiel von Viktor vor Augen hat, lässt Schöfer offen. Nach schweren inneren Kämpfen willigt Manfred in den Verzicht ein. Längst ist im Stahlwerk jeglicher Widerstand gegen seine Kündigung und die Stilllegung der Stahlschmelze zusammengebrochen – und für Manfred ist die Arbeit nicht mehr alles, seitdem er Margrit kennengelernt hat.
Trotzdem leidet er am geforderten Verrat:
[…] ich soll werden wie die, auf ihre Seite mich schlagen ihr Geschäft betreiben, das heißt ich soll mein Leben verraten und anerkennen, dass mein Recht ein Dreck ist das sie kaufen können weil sie die Stärkeren sind. Das heißt das.
Auf grausame Weise kapituliert dagegen Hannes Sonnefeld. Die Kulturzeitschrift Aufbruch, die er einst im Auftrag des DGB-Bundesvorstandes gegründet und mit viel Engagement aufgebaut hat, ist zunehmend in ihrer Existenz gefährdet. Überhaupt nimmt die Bedeutung der Kulturarbeit für die Gewerkschaften nach einer langen Phase des Aufschwungs wieder rapide ab.
Armin wird dazu verurteilt, erträgliche Wahrheiten zu schreiben
Als Hannes die Lehrerin Lisa mit ihren beiden Kindern kennenlernt, ändert sich für ihn alles. Nicht dass es ihm egal wäre, „was in der großen Welt passiert, aber es bleibt im Kopf, weil mein Herz einfach, ja: überfüllt ist“, schreibt Hannes einem Freund. „Sie liebt mich und deshalb liebe ich sie und ich liebe sie und deshalb liebt sie mich – das ist unsre revolutionäre Liebeslogik.“
Doch dann nimmt das Drama seinen Lauf. Nur eines steht schließlich unverrückbar fest: Lisas Tochter wurde ermordet und Hannes kurze Zeit später ebenfalls tot aufgefunden. Schnell kommt das Gerücht auf, Hannes könne nicht der Mörder von Lisa sein, sondern er sei vielmehr selbst auch ermordet worden.
Hannes Freund Armin Kolenda kommt die Aufgabe zu, einen Nachruf für die Demokratische Zeitung zu schreiben.
Seitdem Armin mit fadenscheinigen Begründungen seinen Arbeitsplatz als Sozialarbeiter in einem Jugendprojekt verloren hat, arbeitet er als Journalist für die Demokratische Zeitung. Noch immer versteht er sich nicht nur als Berichterstatter, sondern nimmt auch selbst aktiv an den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen teil, über die er berichtet. So ist Armin auch beim Kampf gegen die Startbahn West dabei, wo er er noch einmal seine große Liebe Salli trifft. Salli ist inzwischen verheiratet. Ob glücklich, lässt Schöfer offen. Immerhin: Gustl „liebt“ Salli – oder was man auf dem Dorf so Liebe nennt, wie Schöfer trocken hinzufügt.
Der Nachruf für Hannes stellt Armin vor eine unerwartet große Herausforderung. Was soll er schreiben? „Wir trauern um Hannes. Hannes war unser Freund. War oder ist, das ist hier die Frage.“ Je mehr er grübelt, desto falscher erscheinen ihm alle Ansätze. So gelingt es ihm In sechs Stunden gerade einmal, zwei Sätze zu schreiben.
Armin ahnt: „Ich schreibe einen Nachruf! Ich muss erträgliche Wahrheiten lügen!“ Einen kompromisslosen Nachruf? „Wer hielte den aus. Nicht die Demokratische Zeitung. Nicht die alte geschäftig verharzte Arbeiterbewegung.“
Tatsächlich lehnt eine Redaktionsmehrheit schließlich seinen Nachruf ab. Armin schickt Lisa seinen unveröffentlichten Nachruf und trifft sich mit ihr.
Beide kommen sich näher. Doch es ist nicht die große Liebe, die bald beide vereint, sondern ihre Suche nach Nähe und Geborgenheit.
Manfred kehrt in den Schoß der bürgerlichen Gesellschaft zurück
Manfred dagegen hat mit Margrit seine große Liebe gefunden. Mit ihr will er nicht nur eine Familie gründen, sondern kehrt er auch in den Schoß der bürgerlichen Gesellschaft zurück. Sichtbares Symbol dafür ist beider Wunsch, kirchlich zu heiraten und ihr Kind taufen zu lassen. Ausgerechnet der Kommunist Viktor soll sein Patenonkel werden.
Auch politisch scheint Manfred mit der bürgerlichen Gesellschaft seinen Frieden geschlossen zu haben. Als jedoch Krupp das Stahlwerk in Rheinhausen schließen und Tausende Arbeiter auf die Straßen setzen will, geht Manfred „vor Wut über die gebrochnen Versprechen des Vorstands und die hohl hallenden Proteste der Funktionäre, das bauchige Patos angestellter Empörung“ auf die Barrikaden.
Gerade hat der Hüttenmeister Anklam den Stahlwerkern noch gepredigt, „[d]u bist verantwortlich Kollege, du selbst, dass dein Arbeitsplatz hier und die Hütte besteht in der Konkurrenz“, da ist der einstige Stahlwerker Manfred plötzlich „wieder mächtig zu sehn in der Welt seit dem Sprung über die Rampe zwischen Leitung und Leuten, Auferstehung eines Arbeiters, der Beifall hat ihn an die Spitze des Aufstands gewählt“.
Alle Straßenblockaden und Demonstrationen können das Stahlwerk mit seinen Tausenden Arbeitsplätzen letztlich nicht retten. Erreicht wird lediglich eine Schließung auf Raten, weil die IG Metall von Anfang an auf Ersatzarbeitsplätze in neuen Betrieben und Beschäftigungsgesellschaften orientiert und die Stahlwerker zu „Besonnenheit“ aufruft, anstatt den „Generalaufstand der deutschen Stahlarbeiter“ zu organisieren.
Während Viktor trotz aller Enttäuschungen in der DKP ausharrt, tritt Manfred in die SPD ein. Viktor ist entsetzt. Hat Manfred vergessen, wie die SPD mit ihrer absoluten Mehrheit im Ruhrgebiet die Zechenschließungen durchgesetzt, wie die sozialdemokratische Mehrheit im Betriebsrat seiner fristlosen Kündigung zugestimmt, wie die SPD im Kampf für das Rheinhausener Stahlwerk von Beginn an auf den faulen Kompromiss gesetzt hat?
Natürlich nicht. Doch Mitglied bei den, wie er formuliert, abgewirtschafteten Kommunisten oder körnerfressenden Grünen zu werden, hält er für sinnlos. Lieber will er sich mit „dem Rest der Arbeiterklasse“ zusammentun, „der noch was verändern will in diesem Staat“. Es ist besonders Oskar Lafontaine, auf dem Manfreds Hoffnungen ruhen.
Dass Lafontaine wenige Jahre später das Handtuch werfen und die SPD verlassen würde, um die Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit (WASG) mit aufzubauen und in der Partei Die Linke mit der PDS zusammenzuführen, wissen zwar die Leser des Buches und wusste auch Schöfer, als er 2008 den Roman „Winterdämmerung“ abschloss, Manfred jedoch konnte sich Silvester 1989 noch Illusionen hingeben, die SPD würde die „politische Priorität auf Herstellung von sozialer Gerechtigkeit“ setzen und die „Kapitalmacht kappen“.
Zweifel nagen indes auch an Viktor. Gäbe es nicht Viktors Enkelin Ann, die sich von ihrer Mutter losgesagt hat und zu ihrem Großvater nach Deutschland gekommen ist, Viktor würde sich wohl völlig in der Einsamkeit verlieren. Doch mit ihrem erfrischend unbekümmerten Auftreten verleiht Ann ihm neuen Mut, auch wenn er noch nicht weiß, wie es gelingen soll, die immer gigantischer werdenden Probleme der Menschheit zu lösen.
Zwischen Siegesfeier am Brandenburger Tor und roter Fahne über dem Stahlwerk
Von der Aufbruchstimmung des „Ein Frühling irrer Hoffnung“ überschriebenen ersten Bandes der Romantetralogie „Die Kinder des Sisyfos“ ist im Schlussband „Winterdämmerung“ nicht mehr viel zu spüren. Dem Frühling ist der Winter gefolgt, der Hoffnung die Dämmerung. Doch jedem Winter folgt auch ein neuer Frühling und jeder Abenddämmerung eine Morgendämmerung.
Sicherlich offenbart Ann viel Naivität, wenn sie ihren Großvater fragt: „Meinst du wirklich Untergang Vik? Nicht vielleicht doch Befreiung?“ Schöfer lässt es offen, ob die Leser das Ende der DDR als Sieg feiern oder als Niederlage beweinen sollen. Zweifellos hat die Idee des Sozialismus zwar tatsächlich eine schwere Niederlage erlitten, aber ist der Kampf für eine sozialere und zukünftig auch ökologischere Gesellschaft damit wirklich am Ende?
Als Manfred, Margrit, Viktor, Ann, Armin und Lisa am Silvesterabend 1989 zusammensitzen und im Fernsehen den „Volksrausch“ am Brandenburger Tor sehen, berichtet Manfred über von der roten Fahne, die, als sie um ihre Arbeitsplätze im Stahlwerk kämpften, „einer, ich wars nicht, vielleicht der Theo oder einer von den Anarchos, oben auf dem Hochofen, hundert Meter hoch über Krupp und Cromme und sechstausend Malochern“ hisste.
Jetzt will Manfred sie noch einmal da oben wehen lassen: „So aus Trotz oder was.“
[…] glasklar die Sicht über das Menschenland, in dessen Himmel die Raketen aufzusteigen begannen, einzelne erst, aber schnell vermehrten sich die vielfarbigen, in der Höhe in zerstiebende Funkenregen platzenden Leuchtspuren […] Ann begeistert, festgekrallt am Geländer, schries in das Brausen der stürmenden Luft: So sehen Silvesterengel die Erde! Und Hubschrauberpiloten! schrie Kolenda dagegen. Und Nacheulen! Bliss. Und Sternwärter! Ann.
Ein Lachen packte sie unwiderstehlich, eine überschäumende Freude, und Anklam, plötzlich wieder neben ihnen, wies mit dem Strahl seiner starken Lampe nach oben, zu der Kranhütte, über der tatsächlich der rote Fetzen flatterte. Und lachte mit.
Abgeschlossen wird die Vorstellung von Erasmus Schöfers Romantetralogie „Die Kinder des Sisyfos“ mit einer Gesamteinschätzung der vier Bände.
Erasmus Schöfers Roman „Winterdämmerung“ bei Amazon
Juni 1st, 2015 at 19:25
Lieber Heinz,
ich lese deinen Blog immer wieder gern.
Danke für diesen Buchtipp und die hervorragende Rezension!
Liebe Grüße
Genya