Aslı Erdoğans Romane „Der wundersame Mandarin“ und „Die Stadt mit der roten Pelerine“ im Vergleich (Teil 1)
2008 schien die Welt noch in Ordnung. Damals war die Türkei Gastland der Frankfurter Buchmesse. Mit deutschsprachigen Übersetzungen türkischer Autorinnen und Autoren sah es jedoch schlecht aus. Seit Längerem versuchte das Ministeriums für Kultur und Tourismus der Türkei diesen Missstand mit dem TEDA-Programm gegenzusteuern. Dank der Unterstützung durch TEDA konnten mit Aslı Erdoğans „Der wundersame Mandarin“ und „Die Stadt mit der roten Pelerine“ pünktlich zur Buchmesse zwei weitere Romane aus der Türkei auf dem deutschen Buchmarkt erscheinen.
Heute gilt Erdoğan dagegen dem Regime von als höchst gefährliche Staatsfeindin. (Trotz der Namensgleichheit ist Aslı Erdoğan übrigens nicht mit dem türkischen Präsidenten Recep Erdoğan verwandt. Erdoğan ist in der Türkei vielmehr ein weitverbreiteter Name.) Im August 2016 in Istanbul im Rahmen einer Verhaftungswelle von 23 Journalisten und Mitarbeitern der türkisch-kurdischen Tageszeitung Özgür Gündem wegen „Propaganda für eine illegale Organisation“, „Mitgliedschaft bei einer illegalen Organisation“ und „Volksverhetzung“ festgenommen, wurde im Dezember 2016 der Prozess gegen die Schriftstellerin und acht weitere Angeklagte vor einem Instanbuler Gericht eröffnet.
In Deutschland ist sie vor allem aufgrund ihrer Verfolgung in ihrer Heimat bekannt geworden. Ihre Bücher finden dagegen bislang weit weniger Beachtung. Zu unrecht. Von den acht Büchern, die die türkischsprachige Wikipedia ausweist, sind gerade einmal drei übersetzt worden: außer den bereits genannten „Der wundersame Mandarin“ und „Die Stadt mit der roten Pelerine“ nur noch der Sammelband „Holzvögel“ mit den preisgekrönten Beiträgen eines türkischsprachigen Literaturwettbewerbs.
Den Roman „Der wundersame Mandarin“ hat Erdoğan bereits 1996 geschrieben, „Die Stadt mit der roten Pelerine“ folgte zwei Jahre später – zwei Jahre, in denen sie sich literarisch enorm weiterentwickelt hat.
Nächtliche Streifzüge als „Heiligung der Einsamkeit“
An keiner Stelle des Romans „Der wundersame Mandarin“ erfahren wir den Namen der Protagonistin. Nur, dass sie in der Türkei geboren wurde und dort auch aufgewachsen ist. Erdoğan beschreibt sie als eine schlanke, schmächtige Frau, die noch keine dreißig Jahre zählt und bis vor Kurzem von einem angenehmen Äußeren war. Doch dann verlor sie ihr linkes Auge. Mit ihrem halb unter einer Bandage versteckten Gesicht wagt sie sich seitdem nur noch nachts auf die Straße.
Es vergeht keine Nacht, in der sie nicht durch die Straßen von Genf streift. Angst hat sie keine, denn diese Stadt ist „völlig sicher, so sehr, daß es langweilt“. Angefangen hat es mit den nächtlichen Streifzügen allerdings schon viel früher, damals, als sie noch mit Sergio zusammen war. Sie liebten sich „ganze Nächte lang oder wanderten durch die Gassen und führten endlose Gespräche“.
Heute dagegen fühlt sie sich „einer Witwe ähnlich, die das Grab ihres Mannes besucht“, wenn sie durch die nächtlichen Straßen streift. Es ist ein Ritus für sie, „die Heiligung der Einsamkeit.“
Und einsam fühlt sie sich schon lange. Eigentlich begann das schon in ihrer Jugend in Istanbul. Als Mädchen unterlag sie in der Türkei vielerlei Einschränkungen. Sie fühlte ihr „Leben von Gittern umzäumt und […] versuchte, wenn auch um den Preis, mich zu verletzen, vergeblich, den Stacheldraht in Stücke zu reißen“.
Eigentlich müsste es ihr in Genf gut gehen, denn nichts erinnert sie hier „an Istanbul, an meine Kindheit und meine zweifellos unglückliche, unbewegte und vertane Jugend“. Doch ihre inneren Verletzungen sind geblieben, wollen nicht verheilen.
Vergeblicher Versuch, vor der Welt davonzulaufen
Obwohl sie behauptet, dass sie Sergio liebt und geliebt hat, behauptet sie genauso, mit ihm nicht glücklich gewesen zu sei. Allerdings – und das ist für sie das Entscheidende – war sie lebendig und konnte atmen. Er war „meine Nabelschur zur Welt und auch mein geheimes Tor zur Vergangenheit“. Umso mehr trifft es sie, als er sie verlässt, denn „jetzt ist die Welt feindlicher und kälter denn je“.
Hatte Sergio sie für eine kurze Zeit aus ihrer Selbstisolierung geholt, zieht sie sich jetzt erneut und noch mehr als früher zurück. Sie gibt es auf, sich „hoffnungslos zu bemühen, im Leben anzukommen“. Stattdessen läuft sie und läuft und läuft. Doch „[m]it erbarmungsloser Entschlossenheit folgt mir die Welt auf den Fersen.“
Sie will nicht, dass ihr „ungemein wahrheitsverliebter, vernünftiger, mit gesundem Menschenverstand ausgestatteter Arzt“ mit ihr offen über die Wahrscheinlichkeit redet, dass sie mit ihrem verletzten Auge noch einmal sehen werden und nicht auch noch das zweite Auge verlieren wird.
Beziehungen bieten ihr nur „ein falsches Paradies“. Für sie sind es einfach „die Männer“, die ihr und allen Frauen das Leben schwer machen.
Dass ein Mann sie lieben könnte, ist für sie unvorstellbar. Männer werden „nicht mich, sondern ein Bild lieben, verurteilen, verachten, verlassen, das sie selbst geschaffen haben“. So glaubt sie Sergio zwar, dass seine Liebesworte ehrlich gemeint sind, kann sich an ihnen aber doch nur sehr eingeschränkt freuen.
„[V]erschlossen, düster und scheu“ sitzt sie auch eines Abends mit vier Männern und Maria zum Abendbrot zusammen. Ihr wundes Auge ist gerade verbunden worden und schmerzt. Dass sie sich nicht an den Gespräche der anderen beteiligen möchte, liegt allerdings nur vordergründig an diesen Schmerzen. Tatsächlich ist es Langeweile. Mit Menschen, die nach ihren Empfindungen nur Belanglosigkeiten plaudern, weiß sie nichts anzufangen.
Schien die Protagonistin lange Zeit vor allem ein Problem mit Männern zu haben, wird in langsam immer deutlicher, dass ihr Verhältnis zu Frauen kaum weniger problematisch ist. Auch zu Maria gelingt es ihr nur mit Mühe, Nähe aufzubauen. Gerade hat sie sich mit ihr noch „von Frau zu Frau“ ausgetauscht, verliert Maria bereits wieder ihre Telefonnummer.
Unfähig, zwischenmenschliche Bindungen aufzubauen
Es sind die Menschen überhaupt, zu denen die Protagonistin keine Verbindung aufbauen kann. Bei einem Blick durch ein Restaurantfenster sieht sie nur „porzellanweiße Gesichter, die sich in würdevoller Haltung in Gespräche vertieft“ haben. Doch „[n]icht Menschen saßen an den Tischen, sondern Puppen“. Sie lauscht den „kleinen, netten, liebenswürdigen Stimmen der Menschen“, dir ihr „weder mit Leidenschaft noch Schmerz oder Tiefe“ behaftet sind. Für sie bestehen keine Zweifel, dass diese Menschen einsam sind, sich in dieser Einsamkeit aber wohlfühlen.
Als sie in einem Café von einem Mann angelächelt wird, schaut sie weg, lässt die Mundwinkel hängen und schaut ihn tadelnd an. Und als sie ein Mann auf der Straße anspricht und fragt, welche Bar sie empfehlen könne, weist sie ihn freundlich, aber bestimmt ab. Das könne nicht sein, dass er „mit einer Frau, die in alten, schäbigen Kleidern herumläuft, mit zerzausten Haaren, häßlich und dazu noch einäugig“, in eine Bar gehen möchte. „Da stimmt irgend etwas nicht“, ist sie überzeugt.
Ein sprachlich und in seiner Fabulierkunst überzeugender Roman mit Schwächen
Eines sei gleich vorweg betont: Sprachlich vermag der Roman voll zu überzeugen. Erdoğan kann schreiben. Ebenso beeindruckt sie mit ihrer Fabulierkunst. So hervorragend der Roman Erdoğan sprachlich gelungen ist, das negative Menschenbild der Protagonistin lässt sich auf Dauer trotzdem immer schwerer ertragen. Dass die Sympathie und das Mitgefühl für die Protagonistin schließlich in ihr Gegenteil umzuschlagen drohen, liegt dabei weniger an deren Menschenbild als an der Erzählhaltung Erdoğans.
Wer fühlt sich und alle Frauen von den Männern missachtet, ignoriert, nicht anerkannt, auf das Frau-Sein reduziert? Die Protagonistin aus ihrer beschränkten Sicht oder Erdoğan aus ihrer alles überschauenden Erzählerposition? Für wen sind die Mitmenschen nur Puppen ohne Gefühle? Für die Protagonistin aus ihrer beschränkten Sicht oder für Erdoğan aus ihrer alles überschauenden Erzählerposition?
Dies gelingt mit dem Fortschreiten des Romans immer schwerer auseinanderzuhalten. Romanprotagonistin und Romanautorin drohen zunehmend eins zu werden. Gerade auch wenn man weiß, dass Erdoğan selbst von 1991 bis 1993 in Genf gelebt und als Physikerin am europäischen Kernforschungszentrum CERN gearbeitet, sich als einzige Frau in einem ansonsten reinen Männerteam aber äußerst unwohl gefühlt hat, drängt sich die Annahme auf, dass Erdoğan sich der Protagonistin bedient, um der Welt ihre eigenen Befindlichkeiten mitzuteilen.
Was man der durch ihren äußeren Makel verunstalteten Protagonistin noch nachsehen mag, es ebenso der umtriebigen Autorin nachzusehen, fällt schwer. Zu einfach ist das Menschenbild gezeichnet: hier die gute, die Schlechtigkeit der anderen Menschen, und besonders der Männer, durchschauende Protagonistin, dort diese anderen Menschen, die oberflächlich und nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind.
Glaubt man anfangs noch, dass es ihr verunstaltetes Gesicht ist, welches die Protagonistin einsam und menschenscheu werden lässt, schält sich bald heraus, dass es ihr Menschenbild ist, welches sie zur Einsamkeit verurteilt. Wer sich so wie sie über die Mitmenschen hebt, der gewinnt sich selten Freunde. Einäugig, das heißt aus einem eingeschränkten Blickwinkel heraus, hat sie die Welt auch schon vor dem Verlust ihres Auges betrachtet, mit dessen Verlust allerdings widerspiegelt sich dies auch in ihrer Physiognomie und ist sie auch physiologisch zum einäugigen Sehen verurteilt. Die ihrem Menschenbild geschuldete Einschränkung ihres Sehfeldes fällt in eins mit ihren physiologischen Möglichkeiten.
Eine alte chinesische Sage und ihre Interpretation durch Aslı Erdoğan
Eher Rätsel gibt das „Der wundersame Mandarin“ überschriebene kürzeste Kapitel des Romans auf, das dem gesamten Roman seinen Titel gegeben hat und entsprechend von zentraler Bedeutung sein muss.
Bei der Geschichte über den Mandarin handelt es sich um eine alte chinesische Sage, die wiederholt von Künstlern aufgegriffen und bearbeitet wurde. (Zu den berühmtesten gehört die Tanzpantomime „Der wunderbare Mandarin“ von Béla Bartók, die bei der Kölner Uraufführung am 27. November 1926 in einem Tumult endete und deren weiteren Aufführungen vom damaligen Oberbürgermeister und späteren Bundeskanzler Konrad Adenauer verboten wurden.)
In wenigen, eher nüchternen Sätzen erzählt Erdoğan die Geschichte: Ein alter, hässlicher Mandarin geht zu einer wunderschönen Prostituierten, die ein Herz aus Stein hat. Als der Mandarin eingeschlafen ist, ruft sie ihre Räuberfreunde, damit sie ihn ausrauben und umbringen. Doch der Mandarin erwacht und setzt sich zur Wehr. Wie durch ein Wunder hinterlassen die todbringenden Waffen der Räuber keinerlei Spuren bei dem Mandarin.
Jetzt will die Frau ihn noch einmal lieben, dieses Mal allerdings nur um der Liebe willen. Doch mit jeder zärtlichen Berührung öffnet sich am Leib des Mandarins eine Wunde, bis der Mandarin blutüberströmt stirbt. Der Hass der Räuber konnte ihn nicht fällen, erst die Liebe fällt ihn.
Hat wirklich die Liebe die Protagonistin gefällt, während die Gleichgültigkeit der Mitmenschen sie unbeschadet ließ? Ist es nicht ihr Menschenbild, das ihr vorgaukelt, besser als die anderen oder zumindest die meisten anderen Menschen zu sein? Tatsächlich lässt nicht die Liebe zu Sergio, sondern erst der Verlust dieser Liebe sie ihre Einsamkeit erkennen. Diese Einsamkeit, dieses Ausgestoßensein verteidigt sie gegen alle Gefährdungen. Sie will nicht angelächelt und nicht in die Bar eingeladen werden. Ihre seelischen Verwundungen fügt sie sich selbst bei.
Der zweite Teil dieses Blogbeitrages setzt sich mit Aslı Erdoğans Roman „Die Stadt mit der roten Pelerine“ auseinander.
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