Wolfgang Beutins Streit- und Lesebuch über Luther offenbart einen in jeder Hinsicht radikalen Reformator (Teil 4)
Zu recht hebt Wolfgang Beutin in seinem Streit- und Lesebuch „Der radikale Doktor Martin Luther“ die große Aufmerksamkeit hervor, die Luther der Sprache schenkte. So zitiert er aus seiner 1524 verfassten Schrift „An die Radherrn aller stedte deutsches lands: das sie Christliche schulen auffrichten und hallten sollen“, dass der Teufel „mein Denken nicht so hoch wie meine Sprache und Schreibfeder“ veranschlage. Sein Denken raube ihm „nichts als nur mich allein“, während die Schrift und die Sprache seinen Wirkungsradius einschränkten.
Der teuffel achtet meynen geyst nicht so fast, alls meine sprache und feder ynn der schrifft. Denn meyn geyst nympt yhm nichts denn mich alleyn. Aber die heyligen schrifft und sprachen machen yhm die wellt zu enge, und thut yhm schaden ynn seym reich.
Alleine Denken bewirke nichts, war Luther überzeugt, wenn es nicht auch ausgesprochen und vor allem so ausgesprochen werde, dass es andere verstehen können. Und die Bibel war eines zweifellos nicht: dem gemeinen Volk verständlich.
Wort-für-Wort-Übersetzungen erschwerten Verständnis der Bibel
Zum einen lag dies daran, dass die offizielle Bibelsprache Latein war und die Verbreitung von Übersetzungen in die Sprache des Volkes von der kirchlichen und staatlichen Obrigkeit bestenfalls geduldet wurde. Zum anderen fehlte es nicht zuletzt deshalb an allgemein verständlichen Übersetzungen. Ausnahmslos alle 18 vorlutherischen Übersetzungen gehen auf die als Vulgata bezeichnete Übersetzung der Bibel aus dem Altgriechischen ins Lateinische zurück, die der Theologe und Kirchenvater Hieronymus nach 382 unter Papst Damasus I. begonnen hatte. Bis auf einige wenige Revisionen unter Kaiser Karl der Große war sie seitdem nahezu unverändert geblieben.
Egal ob Mentelin-Bibel (vor 1466), Eggestein-Bibel (vor 1470), Zainer-Bibeln (1475/1477), Pflanzmann-Bibel (1475), Sorg-Bibeln (1477/1480), Nürnberger Bibel (1483), Grüninger-Bibel (1485), Schönsperger-Bibeln (1487/1490) oder Otmar-Bibeln (1507/1518), sie alle zeichneten sich durch ein schwer verständliches und teilweise nur in einzelnen Regionen gesprochenes Deutsch aus. Sie waren Wort für Wort aus der Vulgata übersetzt und kaum bearbeitet worden, ihr Deutsch altertümlich und oft sogar noch mit mittelhochdeutschen Wortformen durchsetzt.
Am ehesten zeitgenössischen sprachlichen Anforderungen entsprechen konnte lediglich die zwischen 1390 und 1400 unter König Wenzel IV. von Böhmen in Prag begonnene Wenzelsbibel. Doch mit seiner Abwahl 1400 stockte die Arbeit für vier Jahrzehnte, bevor sie unter Friedrich III. wieder aufgenommen, aber erneut nicht vollendet wurde. Zu einer Veröffentlichung ist es deshalb nie gekommen.
Mit der Lutherbibel zurück zu den Ursprüngen der Bibel
Luther setzte im Gegensatz zu den vorlutherischen Übersetzern nicht bei der Vulgata an, sondern ging zu den Ursprüngen zurück: für das Alte Testament auf die hebräischen Urschriften und für das Neue Testament auf die altgriechischen.
Die Verdienste, die er sich dabei um die deutsche Sprache erworben hat, können kaum hoch genug angesetzt werden. Wo andere Wort für Wort übersetzten und in einem längst veralteten Deutsch verharrten, verschmolz er das Schriftdeutsch der deutschen Amtssprache mit der Sprache des Volkes. So stehen neben gelehrten Worten gleichberechtigt Wörter und Wendungen, die der Vorstellungs- und Gedankenwelt des Volkes entstammen.
Im Sendbrief „Von Dolmetzschen[n] und Fürbit der heiligenn“ von 1530 hat er seine grundsätzlichen Überlegungen formuliert:
… man mus die mutter jhm hause, die kinder auff der gassen, den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen, und den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetzschen, so verstehen sie es den, und mercken, das man Deutsch mit jn redet.
Wenn Luther von Dolmetschen redet, meint er also nie ein wortwörtliches Übersetzen, sondern immer ein sinngemäßes Übertragen oder „Nachdichten“. Sein Publikum sollte ihn verstehen, das war das Wichtigste. Davon ließ er sich bei allen seinen Schriften leiten.
In diesem Zusammenhang verweist Beutin besonders auf Heinrich Heine, der sich ausführlich mit Luther auseinandergesetzt hat. Über dessen Sprache schrieb Heine: „Er gab dem Gedanken auch das Wort. Er schuf die deutsche Sprache. Dies geschah, indem er die Bibel übersetzte.“ Er transformierte sie „aus einer toten Sprache, die gleichsam schon begraben war, in eine andere Sprache […], die noch gar nicht lebte.“
Luther habe nicht nur den Augiasstall der Kirche ausgefegt, sondern ebenso den der deutschen Sprache. Er habe die moderne deutsche Prosa geschaffen und mit dem Kirchenlied „Ein feste Burg ist unser Gott“ jenen siegesgewissen Chorals, der als Marseillaise der Bauernkriege in die Geschichte eingegangen sei.
Ein anderer revolutionärer Publizist, der sich über Luther äußerte und auf den Beutin verweist, war Franz Mehring. Im Gegensatz zu vielen anderen beschränkte er sich nicht auf eine Würdigung von Luthers Bibelübersetzung, sondern betrachtete die ganze Bandbreite von Luthers schriftlichen Zeugnissen, um schließlich zu resümieren:
„In der Bibel ist Luthers Sprache, aus Ehrfurcht vor dem gegenwärtigen Geist Gottes, immer in eine gewisse Würde gebannt. In seinen Streitschriften hingegen überläßt er sich einer plebejischen Roheit, die oft ebenso widerwärtig wie grandios ist.“
Verschärfung gesellschaftlicher Widersprüche als Voraussetzung für Luthers Erfolg
Im Gegensatz zu den vorlutherischen Bibelübersetzungen war Luthers Bibelübersetzung ein grandioser Erfolg beschert. Das lag allerdings nicht nur an ihrer Sprache, vielmehr hatten sich seit Mitte des 15. Jahrhunderts die gesellschaftlichen Widersprüche derart verschärft, dass es vor allem auf dem Lande, aber auch in den Städten immer wieder zu kleineren und größeren Revolten kam. Der schnell an Bedeutung gewinnende Handel sorgte dafür, dass Berichte über Revolten und Unruhen sich schnell über Landesgrenzen hinweg verbreiteten. Ganz enorm befördert wurde dies durch Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern, der es erstmals ermöglichte, schnell größere Auflagen von Druckschriften herzustellen.
Erst vor diesem Hintergrund konnte Luthers Sprache voll zum Tragen kommen. In allgemein verständlichem Deutsch geschrieben und in großen Auflagen gedruckt, konstatierte Mehring, wurde „durch diese Bibel, wovon die junge Presse, die schwarze Kunst, Tausende von Exemplaren ins Volk schleuderte, die Lutherische Sprache in wenigen Jahren über ganz Deutschland verbreitet und zur allgemeinen Schriftsprache erhoben“.
Tatsächlich sind die Zahlen beeindruckend. Der 1522 erschienenen ersten Auflage des Neuen Testaments und der 1523 veröffentlichten ersten Teilübersetzung des Alten Testaments folgten bis 1525 bereits 21 autorisierte Neuauflagen und 110 Nachdrucke. Der evangelische Kirchenhistoriker Bernd Moeller schätzt, dass damit rund ein Drittel aller lesekundigen Deutschen Luthers Bibel besessen haben.
Breiter Raum für die Darstellung des marxistischen Lutherbildes
Ausführlich geht Beutin in seinem Streit- und Lesebuch auch auf die unterschiedlichen Lutherbilder ein, denn von einem Lutherbild konnte weder in der Vergangenheit noch heute gesprochen werden. Dass die Protestanten Luther feierten und feiern, während die Katholiken ihn ablehnen oder gar beschimpfen, versteht sich von selbst. War er für die einen „Deutschlands Schandfleck“, der „übelriechendste Unflat, den die Hölle jemals ausgeworfen hat“, das „unseligste Ungeheuer des Erdkreises“, ein „schändlicher Apostat“, war und ist er für die anderen der „eislebische christliche Ritter“, ein „Freiheitsbringer“.
Sehr viel interessanter und lesenswerter als dazu sind jedoch Beutins Ausführungen zur marxistischen Lutherdeutung, der er in seinem Buch einen breiten Raum einräumt. Auch damit hebt sich sein Streit- und Lesebuch „Der radikale Doktor Martin Luther“ wohltuend aus der Flut der Veröffentlichungen über Luther und die Reformation heraus.
Zum grundsätzlichen Unterschied von marxistischem Luther- und Reformationsverständnis auf der einen Seite und religionsgeschichtlichem auf der anderen, zitiert Beutin den Historiker und Nationalökonomen Leo Stern, der diesen Unterschied auf den Punkt brachte:
Der kardinale Unterschied zwischen der marxistischen Analyse und der herkömmlichen protestantischen wie katholischen Reformationsgeschichtsschreibung besteht somit darin, daß die religiösen und politischen Ideen der damaligen Zeit nicht als Ursachen, sondern als Resultate der beim Übergang von der feudalen zur frühkapitalistischen Produktionsweise erreichten sozialökonomischen und politischen Entwicklungsstufe aufgezeigt und nachgewiesen werden.
Jenseits dieses ganz grundsätzlich anderen Herangehens marxistischer Historiker und Religionstheoretiker an Luther und die Reformation gibt es jedoch, wie Beutin nachweist, auch unter ihnen nicht das Lutherbild, sondern sehr unterschiedliche Deutungen und Erklärungen.
Mit der dritten, stark überarbeiteten und erweiterten Auflage seines 1982 im Vorfeld von Luthers 500. Geburtstag in erster und 1983 im Jahr von Luthers 500. Geburtstag in zweiter Auflage erschienenem Streit- und Lesebuch „Der radikale Doktor Martin Luther“ hat Wolfgang Beutin eine umfassende Lutherwürdigung vorgelegt, der man an einigen Punkten widersprechen mag, die insgesamt aber voll überzeugt.
Wolfgang Beutins „Der radikale Doktor Martin Luther“ bei Amazon